Theater für die Sinne

Als ersten Teil in der Magdeburger Trilogie inszenierte der Medienkünstler Jo Fabian Das Guericke-Labyrinth. Ein ästhetisches Erlebnis mit Interpretationsaufforderung an jeden einzelnen Zuschauer.

SpielbetriebText: Daniel Jakubowski   Fotos: Nilz Böhme

Magdeburg| Ein treibender Rhythmus aus den Lautsprechern begleitet die gleichförmigen Bewegungen der Schauspieler über die weißen Platten auf der Bühne vor der weißen Leinwand. In einer Art verlangsamtem Marsch laufen die Männer von rechts nach links und die Frauen entgegen gesetzt über die Bühne – im Kreislauf, immer wieder, eine Endlosschleife.

Das Guericke-Labyrinth ist ein szenisches Kunstwerk aus choreografierter Bewegung, Musik und Detailszenen. Luise Audersch, Heide Kalisch, Michaela Winterstein, Jeremias Koschorz, Andreas Guglielmetti, Silvio Hildebrandt, Peter Wittig sowie die beiden Kinderschauspieler Brian und Kevin Smith zelebrieren ein Kabinett aus Mimik und Gestik. Langsamkeit und Wiederholung sind die zentralen Elemente der Inszenierung. Dadurch wird eine spürbare Spannung aufgebaut. Jedes Geräusch, jede Kleinigkeit, jede Bewegung wird intensiv zelebriert. Die Sinne werden mit fortschreitender Aufführung überscharf. Wenn Michaela Winterstein mit einem Tablett voll klirrender Gläser behutsamen Schrittes über die Bühne läuft, klingelt jeder Ton in den Ohren, ist die ganze Welt ein Klirren. Das kann beim Zuschauen sogar regelrecht schmerzhaft werden.

Das Auftragsstück von Jo Fabian ist der erste Teil der Magdeburger Trilogie. Der Choreograf, Regisseur und Bühnenbildner hat Inhalte und Bilder aus der Zeit Otto von Guerickes auf die Bühne gebracht, die verfremdet, verzerrt oder ausschnitthaft dargestellt werden. Die namenlosen Figuren entstammen dem Dreißigjährigen Krieg: Verwundete, blutende Menschen. Er arbeitet mit Lauftexten auf der Leinwand, eingesprochenen Texten über Lautsprecher und viel Musik. Gesprochener Text der Schauspieler ist auf ein Minimum reduziert. Nur wenn Guericke selbst zu Wort kommt, spricht vom linken oder rechten Bühnenrand einer der Namenlosen. Die Texte sind vom und über den Magdeburger Namenspatron – denkt man: Was hier historisch und was absichtlich abgeändert oder assoziativ zusammen geführt worden ist, lässt sich kaum ausmachen.

FrankensteinDenn die Idee Fabians zielt nicht auf Eindeutigkeit ab. Im Interview erklärt er: „Heute wissen wir, dass nur 25% der Energie des Universums im Bereich der Materie stecken. Und in dem Teil des Alls, den Guericke erforscht hat, liegen die restlichen 75%.“ Das Erleben dieses auf Performance fokussierten Abends lässt sich analog betrachten – 75% des Geschehens bedarf einer persönlichen Deutung durch den Zuschauer, nur 25% ist manifeste Inszenierung. Oder mit den Worten Guerickes im Stück ausgedrückt: „Wenn man etwa ein fremdes Tier nicht kennt, muss man es sich vorstellen – so muss man sich auch das Unendliche vorstellen.“ Das Bühnengeschehen wird zum Raum von Imagination und Deutung der individuellen Wahrnehmung. Es wäre daher sinnlos, eine konkrete Interpretation des Stücks zu geben, die sowieso nur Teile des Gezeigten aufdecken könnte.

Diese Inszenierung ist nicht nur ein Ereignis, sondern vor allem ein Erlebnis. Sie speist sich aus einer enorm dichten Atmosphäre. Sie gibt Rätsel auf und wirft Happen hin, die beim Kauen immer neue Geschmäcker hervorbringen. Und sie packt zu. Durch das unheimlich deutliche und filigrane Spiel der Darsteller muss man vor sinnlicher Faszination fast keuchen.



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