Auf der Suche nach greifbarer zeitgenössischer Kunst
Kassel präsentiert zwischen dem 09.06 und dem 16.09 während der Documenta (13) 100 Tage lang Windgebläse, Teppiche und ganz viel Kritik.
Text und Fotos: Olga Zudilin
Kassel| Die meisten an Kultur interessierten Menschen können mit dem Namen Documenta etwas anfangen oder haben zumindest schon einmal davon gehört. Bisher kannte ich die Ausstellung nur von Erzählungen und aus den Nachrichten und hatte immer Bedenken, nach Kassel zu fahren, um mir die dort präsentierte Gegenwartskunst anzugucken. Zeitgenössische Kunst gilt einfach viel zu oft als verrückt und die Frage: „Ist das Kunst oder kann das weg?“ bringt mein Zaudern auf den Punkt. Dies sollte sich jedoch bei der dreizehnten Documenta ändern.
Schon auf der Zugfahrt von Hannover nach Kassel begegnen mir interessante und kunstbegeisterte Menschen, denen man ansieht, dass auch sie auf dem Weg zu dem so genannten Museum der 100 Tage sind. Sie unterhalten sich darüber, welche Ausstellungsräume sie unbedingt sehen und welche teilnehmenden Künstler sie nicht verpassen wollen. In Kassel ausgestiegen hat man das Gefühl, die Stadt befinde sich im wahren „Documentafieber“. Schon am Bahnhof kann man unterschiedliche Führungen, die „dTours“, buchen und Begleitbücher zur Ausstellung kaufen. In einem Pulk gehe ich mit den anderen Angereisten die etlichen Stufen der Treppenstraße runter zum Museum Fridericianum am Friedrichsplatz – dem Hauptstandort der Ausstellung. Die Schau ist in Kassel auf mehrere Gebäude verteilt, sodass man durch die Stadt wandern muss. Vor dem Fridericianum stoße ich erst einmal auf Occupy-Demonstranten, die ihre bunten Zelte auf der Rasenfläche aufgestellt haben und mit selbstgebauten Panzern und Parolen wie Keep shopping while bombs are dropping ihren Unmut äußern. Die Occupisten nutzen die gutbesuchte Schau, um sich Gehör zu verschaffen. Das Camp wird offiziell von der Leitung der Documenta geduldet und im Laufe meines Rundgangs werden mir erstaunlich viele Exponate begegnen, die sich genauso wie die Demonstranten gesellschaftskritisch und auch politisch zeigen.
Die Anzahl der Exponate ist beträchtlich, sodass man allein im Fridericianum mehrere Stunden verbringen kann. Neben netten Mitarbeiterinnen erwarten den Besucher im Erdgeschoss erst einmal mehrere große, weiße, leere und zum Teil verwinkelte Räume, die auf den ersten Blick nur an den Wänden hängende Neonleuchten und Röhren enthalten. Auf den zweiten Blick sind jedoch die ersten Ausstellungsstücke zu erkennen. Dabei handelt es sich zum Beispiel um Briefe des Künstlers Kai Althoff an Carolyn Christov-Bakargiev, Leiterin der diesjährigen Documenta, die in einer Vitrine ausgestellt sind. In den Briefen sagt der Künstler seine Teilnahme an der Ausstellung ab. Der Briefwechsel zwischen Althoff und Bakargiev ist vom Gefühl des Scheiterns und der Ungewissheit geprägt, da der Künstler eingestehen muss, dass er nicht weiß, wie es in seinem Leben weitergehen soll. Ironischerweise verschaffen ausgerechnet die in der Vitrine hinter Glas festgehaltene Skepsis und Unsicherheit Alhoff doch noch einen Platz unter den teilnehmenden Künstlern.
Windinstallationen ziehen den Besucher durch die Ausstellungsräume
Neben den Briefen sind in den leeren Räumen auch noch eine Vielzahl an Installationen zu erkennen oder besser gesagt zu hören. Der Künstler John Menick kodiert seine Audioinstallation zum Beispiel mit unterschwelligen Texten, die seine Kindheitserinnerungen beschreiben sollen. Bei dem Rundgang durch die Räume wird man von der Windinstallation The invisible pull von Ryan Gander begleitet, die den Besucher durch den Ausstellungsraum ziehen soll. Und so fühle ich mich auch: eingesogen in den Charme der Ausstellung und der zeitgenössischen Kunst, welcher mich durch die kahlen Winkel des Erdgeschosses geleitet. Auf meinem Rundgang höre ich unterschiedliche Sprachen – viel Spanisch, viel Französisch und sehr viel Englisch. Nicht nur anhand der Künstler, sondern auch anhand der Besucher kann man die Internationalität der Ausstellung erkennen.
In der oberen Etage in einem Halbraum betrachten Besucher den Webteppich Of what is, that it is, of what is not, that it is not 1 der Künstlerin Goshka Macuga, auf dem ein Festessen vor dem zerstörten Darul-Aman-Palast zu sehen ist. Der zweite Teil des Teppichs wird in Kabul – eine der Außenstellen der diesjährigen Documenta – ausgestellt. Auch die Künstlerin Hannah Ryggen ist mit Wandbildern an der Ausstellung beteiligt. Mit Teppichen wie Horror. Aus dem Spanischen Bürgerkrieg oder Hitler-Teppich beleuchtet sie die politischen und sozialen Geschehnisse zwischen den 1930er und den 1960er Jahren. Die Videoinstallation der Künstlerin Mariam Ghani zeigt zwei nebeneinander laufende Filme. Während der eine Film die zum Teil mit Kisten voll gestopften Räume des restaurierten Fridericianums zeigt, kann man auf dem zweiten den durch unzählige politische Umwälzungen in Afghanistan zerstörten Darul-Aman-Palast in Kabul erkennen. Während ich in diesem dunklen Raum stehe, muss ich plötzlich an das Camp vor dem Fridericianum denken und erkenne eine thematische Verbindung zwischen der Schau und den Parolen der Demonstranten. Es ist die Gesellschaftskritik, aber auch die Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Genuss in unserer Welt, die sie verbindet – eben nach dem Motto: Keep shopping while bombs are dropping.
Einen besonders einprägenden Eindruck hat auf mich die Installation des Künstlers Kader Attia gemacht. Dieser präsentiert neben afrikanischen Holzfiguren auch eine Diashow, die Bilder von Männern mit Kriegsverletzungen im Gesicht zeigt – und den Versuch, diese notdürftig mit Schönheitsoperationen zu reparieren. Wie bei einem Unfall stehen die Menschen in dem halbdunklen Raum und starren gebannt auf die entstellten Gesichter. Außer dem Diaprojektor herrscht Stille und eine beklemmende Stimmung. Die Besucher sehen riesige Einschusslöcher im Gesicht der Männer, von denen einige ihre Nase, ein Auge und sogar ganze Gesichtshälften verloren haben.
Es ist, als wäre ich auf keiner Ausstellung, sondern in der Natur
Nach diesen Eindrücken muss ich mich erst einmal erholen und hoffe, im Ottoneum auf eine etwas seichtere Kunst. Das Naturkundemuseum widmet sich während der Documenta Fragen rund um das Thema Natur und tierisches Leben. Passend dazu werden Filme gezeigt, die die Natur in Slowmotion einfangen und den Besuchern näher bringen sollen. Wieder sitzen in einem halbdunklen Raum fremde Menschen mit Kopfhörern zusammen und gucken sich die langsamen Bilder von einem schaukelnden Boot an. Es entsteht schon fast eine intime Atmosphäre. Ich fühle mich wirklich, als sei ich nicht auf einer Ausstellung, sondern als säße ich in der Natur, die die Großstadthektik um mich herum vertreiben lässt. In manchen Räumen des Ottoneums wird zusätzlich ein schwüles und tropisches Klima erzeugt und die unterschiedlichsten Arten von Saatgut ausgestellt, welches sich in kleinen an der Wand befestigten Kästchen befindet.
Mein nächster Stopp ist die Documenta-Halle. Dort bin ich vor allem von dem Limited Art Project des Künstlers Yan Lei beeindruckt. Seine Ausstellung besteht aus 360 Bildern, von denen manche an den Wänden hängen und andere wiederum an der Decke befestigt sind. Da die Bilder sich in einem kleinen, nach oben gezogenen Raum befinden, fühle ich mich erst einmal von der Masse der Bilder und den bunten Farben erschlagen. Die Motive entstammen aus dem Internet, die von dem Künstler ausgesucht und auf Leinwand gebracht wurden. Neben berühmten Persönlichkeiten wie Hillary Clinton, Queen Elizabeth oder Albrecht Dürer, sind auch Teetassen und Blumen abgebildet. Während der Ausstellung werden die Bilder nach und nach in einer Autofabrik in der Nähe von Kassel mit Autolack übermalt und wieder in den Ausstellungsraum gebracht, sodass am Ende der Ausstellung die ursprünglichen Motive nicht mehr zu sehen sind. Mit seinem limitierten Projekt führt Lei uns die Endlichkeit vor Augen. Nichts bleibt so wie es einmal war und was noch viel wichtiger ist: nichts ist für die Ewigkeit.
Am Ende meines Besuchs verstehe ich, warum auch Drei-Tages-Karten für die Ausstellung verkauft werden. Der Tag ist fast rum und ich habe wahrscheinlich nur ein Drittel der Schau gesehen. Ich verlasse positiv überrascht, aber auch melancholisch die Documenta. Vieles hat mich zum Nachdenken gebracht, wie zum Beispiel die Diashow mit den entstellten Gesichtern, aber auch das Video vom Fridericianum und dem Darul-Aman-Palast. Ich bin überrascht, wie international die ausgestellte Kunst und wie aktuell die Themen der Ausstellung wirklich sind. Für mich repräsentiert sie sehr gut die gegenwärtige Zeit: Sie ist teilweise bunt und schrill und gleichzeitig auch düster und verstörend. Während ein Teil der Welt aus Krieg, Mord und Zerrüttung besteht, kann ein anderer Teil aus Konsum, Sorglosigkeit und buntscheckigen Farben bestehen. Während eine Familie vor Krieg und Hunger flieht, besucht eine andere Familie in einer weit entfernten gefühlten Welt eine Ausstellung namens Documenta. Und all das passiert gleichzeitig, ohne dass die eine Familie von dem Schicksal der anderen etwas weiß oder jemals davon erfahren wird. Diese Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit der Welt sehe ich auch in den zahlreichen Exponaten der 100-tägigen Schau. Im Fridericianum spüre ich die Tragik des Krieges und des Scheiterns und dann sehe ich mir in der Documenta-Halle die bunten Bilder Yan Leis an, in denen ich zwar auch Kritik an der Gesellschaft erkennen kann, die in mir aber ein Gefühl von Unbeschwertheit hinterlassen.