Literaturblog – Was Psychologie ist, findet man nicht in Büchern
Was wissen Bestseller-Romane über Psychologie? Kann man in Geschichten den menschlichen Geist begreifen? Im zweiten Teil des Literaturblogs wird der Gegenwartsliteratur auf den Zahn gefühlt.
Es war im Jahre 1879 in Leipzig, als Wilhelm Wundt, der „Vater der Psychologie“, das erste experimentelle psychologische Institut gründete. Seit der Geburtsstunde der Psychologie als Wissenschaft ist es also gerade einmal etwas über 130 Jahre her – im wissenschaftlichen Diskurs gibt es wohl nur wenige, eigenständige jüngere Disziplinen. 130 Jahre jedoch sind gemessen am heutigen Fortschritt eine lange Zeit. Und bedenkt man, dass es Bezeichnungen wie Geisteskrankheit oder Institutionen wie Irren- oder Nervenanstalten schon weit länger gab, dürfte das Thema doch eigentlich ein bekannter Hut sein.
Die 23-jährige Journalistin Nellie Bly wagte im Jahre 1887 in Amerika einen Selbstversuch. Sie ließ sich für zehn Tage in die New Yorker Anstalt für Geisteskranke auf Blackwell’s Island (heute Roosevelt Island) einweisen und schildert in ihrer Reportage Zehn Tage im Irrenhaus – Undercover in der Psychiatrie die Erlebnisse. Der im Nachhinein auch in Buchform erschienene Bericht über die schockierenden Verhältnisse in der Anstalt ist nun übersetzt und herausgegeben von Martin Wagner zum ersten Mal auf Deutsch erhältlich. Blys Aufzeichnungen gelten als ein Meilenstein des investigativen Journalismus und zeigen den Lesern auf, wie schrecklich es war, der damaligen psychiatrischen Willkür ausgesetzt zu sein. Dieses Stück literarisierte Realität sollte uns darüber hinaus heute noch mahnen, auch bei Patienten mit psychischen und psychiatrischen Störungen nicht deren Würde aus den Augen zu verlieren.
Gerade deswegen ist dieses Buch allerdings wirklich lesenswert. Nellie Blys Sprache ist schlicht, sie berichtet sachlich und nüchtern von den Geschehnissen, denen sie während ihres kurzen Aufenthalts in der Nervenanstalt beiwohnen durfte. Sie ist schockiert, die Welt ist schockiert, und 100 Jahre danach haben wir hoffentlich etwas gelernt.
Haben wir nicht. S. J. Watson eröffnet in seinem Erstling und Bestseller Ich. darf. nicht. schlafen. ein Irrenhaus, das mit dem Bild von 1887 fast mithalten kann: „Ich stellte mir beängstigende Räume vor, voller verrückter Menschen, schreiend, geistesgestört.“ Die passenden Insassen in seinem Horrorkabinett hat der Autor natürlich auch parat: „Eine junge Frau saß auf dem Bett, nackt, und starrte den Fernseher an. In einem anderen Zimmer wiegte sich ein Mann in der Hocke vor und zurück, die Arme um den Oberkörper geschlungen, als wollte er sich vor Kälte schützen.“
Womit der Leser konfrontiert wird, zeugt außerdem streckenweise von fachlichem Unvermögen. So ist der behandelnde Neuropsychologe, man höre und staune, spezialisiert auf „Patienten mit Hirnstörungen“ und gibt dann auch gleich einen mit viel Zeichentrickfilm-Logik gespickten Rat an seine Patientin weiter: „wahrscheinlich sei ihr Zustand nicht nur das physische Trauma ausgelöst worden, sondern zumindest teilweise auch durch das emotionale Trauma. Ich halte es für möglich, dass ein erneutes Trauma das rückgängig machen könnte“. Eine Amnesie heilt man so aber sicherlich nicht. Das ist das falsche Signal, sowohl an alle Betroffenen, wie auch an alle Leser und Interessierten.
Das zweite Erstlingswerk ist von einem praktizierenden Psychotherapeuten und Professor für klinische Psychologie geschrieben. Noam Shpancer ist spezialisiert auf Angststörungen und gibt in Der gute Psychologe einen Einblick in die beiden Bereiche der Therapie und der Lehre. Tatsächlich findet man hier in einigen wenigen Fragen einen guten Einblick in die Wissenschaft.
Der Autor erklärt wesentliche Phänomene, aus der allgemeinen Psychologie und vor allem der Verhaltenstherapie. Seinen Studenten erklärt er das Gedächtnis, das menschliche Selbstbewusstsein, Gewohnheiten, Lernen und Konditionierung sowie das Missverhältnis zwischen statistischen Größen und der Individualität jedes einzelnen Patienten. Indem er seinen Klienten eine Denkweise präsentiert, die auf Toleranz und Reflexion basiert, zeigt er den Lesern Automatismen auf, die uns im Alltag oft verborgen bleiben.
Leider schafft es der Therapeut und Professor überhaupt nicht, seine Kenntnisse in eine schlüssige oder zumindest spannende Geschichte zu verpacken. Die Sprache ist dabei sehr ungelenk und geht oft in verworrener Abstraktion unter. Eine Gruppe junger Frauen „in tiefsitzenden Jeans“ flaniert an seinem Fenster vorbei. Die Gedanken des Psychologen dazu: „Er begehrt sie nicht mehr, nur noch ihre Essenz, den Duft der Jugend.“ Oder die Handlung hält plötzlich inne, nur um einer misslungen sprachlichen Akrobatik Platz zu machen: „eine einzelne Träne – klein, demütig -, die lautlos das Tal zwischen der Wölbung der Wange und dem Nasenrücken herabrollt.“ Danke, es reicht.
Dann nähert sich das Buch seinem Ende. Noam Shpancer ist kein Literat und das merkt man. Der gute Psychologe ist unvollständig. Er hält bei weitem nicht, was er verspricht. Nach gefühlt der Hälfte der Handlung, nachdem alle Erzählstränge Fahrt aufgenommen haben, bricht das Buch einfach ab. Mag sein, dieser Roman rührt an wichtigen Fragen. Ein Sachbuch, ja, ein derart dilettantischer Romanversuch, bitte nicht.
Viele haben es wohl vorher gewusst: Bestsellerlisten verstehen sich nicht mit Fachwissen. Das wäre soweit nicht schlimm, wenn die beiden Vertreter selbiger Kategorie nicht auch noch literarisch derartige Mängel aufweisen würden. Was Psychologie ist, findet man nicht in Büchern. Man muss lernen und kennen lernen, zu allererst sich selbst. Bleibt zu hoffen, dass genügend derjenigen Leser, die mit dem Thema literarisch wie fachlich Neuland betreten, eben das beherrschen, was Noam Shpancer in seinem Erstling zu predigen versucht – reflektieren. Diese Wissenschaft, wenn auch noch recht jung, ist eben doch ziemlich komplex und, zum Glück, kompliziert und nur schwer berechenbar.