Literaturblog – Zwischen den Zeilen

Mit seinen Rezensionsblogs wird unser Reporter Dominik uns zukünftig einen kleinen Einblick in die Welt der Literatur geben. Er wagt dabei den Rundumblick und verknüpft geschickt gesellschaftliche mit literarischen Themen und würzt es mit eigenen Erfahrungen.

LiteraturblogText: Dominik Grittner, Fotos: Pressefotos Ubooks-Verlag, Goldmann-Verlag, Jochen Schmitz

Charlotte Roche hat sich mit Schoßgebete erneut an die Spitze der Bestsellerliste katapultiert – dank ihres Rufs als zügellos-perverse Schreiberin? Ein Blick auf Roches neues Buch und zwei weiteren skandalträchtigen Werken, denen nicht annähernd so viel mediale Aufmerksamkeit geschenkt wird.

Während meiner Grundschulzeit stieß ich das erste Mal auf das Thema Aufklärung. Das war ungefähr zu der Zeit, in der man „Sex“ oder „Pimmel“ aufgeschnappt hat, ohne zu wissen, was es bedeutet, es aber trotzdem ständig sagte, weil man die Erwachsenen damit schockieren konnte. Da unser Lehrer merkte, dass wir uns mit solchen Ausdrücken gegenseitig beleidigten, rief er einen Elternabend aus, an dem beschlossen wurde, dass wir uns einen Zeichentrickfilm angucken, der uns aufklären sollte. Dieser dämliche Film hat mich damals ziemlich verstört.

Ein dicker Zeichentrickmann lag mit einer dicken Zeichentrickfrau im Bett und eine Sendung-mit-der-Maus-Stimme erklärte: „Wenn Mann und Frau sich ganz doll lieb haben, dann reiben sie sich fest aneinander.“ Natürlich geschah das alles unter einer Zeichentrickbettdecke, und in meiner kindlichen Neugier wollte ich wissen, was genau da drunter vor sich geht. Später verstand ich: Das zu zeigen, wäre zu viel für das Hirn eines Achtjährigen gewesen. Das ist tabu. Es gibt Dinge, über die spricht man nicht, die zeigt man nicht. Und wagt man sich doch einmal über diese Grenze, steht man schnell im Mittelpunkt.

Charlotte Roche ist solch eine Grenzgängerin. Bereits als Schoßgebete erschien, erwartete jeder ein zweites Feuchtgebiete – ein Buch, von dem jeder weiß, dass es über alle Maßen anstößig ist, ohne es selbst gelesen zu haben.

Charlotte Roche © Jochen SchmitzDabei setzt Schoßgebete weniger auf Sex als gedacht, es gleicht eher einem assoziativem Von-der-Seele-schreiben. Dennoch spielt das Sexleben der Portagonistin Elizabeth eine wesentliche Rolle. SPIEGEL-Online beschrieb, das Buch sei sehr stream-of-conciousness-lastig. Es ist fraglich, ob man der Autorin den Umgang mit dem von James Joyce geprägten Stilmittel unterstellen darf, was nicht heißen soll, das Charlotte Roches autobiographische Verarbeitungen in „Gedankenströme“ nicht lesenswert seien.

Lasst es mich so ausdrücken: Diese Gedanken reichen von überflüssig und primitiv bis hin zu bewegend und originell. In einer Szene erzählt sie, wie sie als junges Mädchen Durchfall bekam, wenn sie über Sex redete – ihrer verkorksten Erziehung sei Dank. Und daraus schließt sie: „Ich bin die Summe aller Fehler meiner Eltern.“ Und in einer anderen Szene heißt es: „Wenn ich ein Eichhörnchen sehe, bin ich noch glücklicher als nach dem Sex mit meinem Mann.“ Sie könne ja Försterin werden, um ständig wilde Tiere beobachten zu dürfen. Bitte. Nicht jeder Spaziergang-Gedanke ist literarisch gehaltvoll.

Und womöglich ist Charlotte Roche deswegen so vielgelesen: Schoßgebete umreißt den Zeitgeist. Das ist unsere Pop’n’Blog-Generation. Ein Sumpf aus Irrelevanz, indem wir den Sinn des Lebens suchen.

Ein viel gewagteres und gehaltvolleres Werk wurde Anfang diesen Jahres bei Ubooks veröffentlicht. Ficken und Sterben von Jon Ostein Flink legt ein trostloses Weltbild dar, das von Zynismus und Hass auf die Welt strotzt. Gleich in der Eröffnungsszene will sich der namenlose Protagonist das Leben nehmen, nur leider spielt sein IPod einen ungeeigneten Song ab, was ihm die ganze Stimmung vermiest. Daraufhin gibt er dem Leben eine zweite Chance und driftet planlos durch die Nacht, auf der Suche nach Alkohol, etwas Zuneigung und Sex.

So eine Odyssee ist unterhaltsam und mit einer kräftigen Prise schwarzem Humor gewürzt, doch im Innersten, im Kern, herrscht eine triste Philosophie: „Nein, die einzige Medizin gegen die totale Sinnlosigkeit des Lebens ist und bleibt Ablenkung. Ich muss etwas tun, irgendwas, schreiben, trinken, ficken, lesen, nicht, weil mir das stabile Lebensfreude brächte, sondern, weil es mich von der unerträglichen Sinnlosigkeit ablenkt, die meiner Existenz zugrunde liegt.“

FlinkWenn ein Roman, der mit Tabus bricht und unverblümt über die Abgründe des Alltags reflektiert, erfolgreich sein sollte, dann ist es Flinks Werk, das im Übrigen mit dem Norwegischen Youths‘ Critics Price ausgezeichnet wurde. Ficken und Sterben ist wirklich ein Dreckstück von Buch, ein Singsang auf den Unmut über das Leben, verpackt in einfachen Sätzen mit einer Fülle von Ideen und Denkansätzen, die gewaltig wirken.

Und will man sich wirklich mit etwas potenziell skandalösem beschäftigen, dann empfehle ich den Autoren von Fight Club, Chuck Palahniuk. In Snuff will die Pornolegende Cassie Wright ihren Abgang gebührend feiern: Sie will Spantaneeus Xtasys Rekord im Gruppensex (551) übertrumpfen (600) und sich damit in ihrem Business unsterblich machen.

Dass der menschliche Organismus dabei an seine Grenzen stößt, ist nur eine der verheerenden Folgen, denn bei Sexpartner Nummer 600 handelt es sich um einen Pornoveteran und heimlichen Liebhaber Cassies. Dazu gesellt sich Nummer 72 – der Sohn, der Pornodarstellerin, von dem Cassie nichts weiß.

Palahniuk versteht es nicht nur mit seiner lakonischen Schreibe und lehrreichen Hintergrundfakten den Leser bei der Stange zu halten (wer hätte gedacht, dass Hitler die Gummipuppe erfand), sondern das Panorama einer tragischen Familiengeschichte zu zeichnen. Wie könnte auch eine gesunde Ehe dem Pornobusiness entspringen? Moralische Werte prallen auf eine verpornografisierte Gesellschaft. Dabei findet die Handlung der gesamten 200 Seiten am Set des Pornofilms statt.

PalahniukEs mutet schon etwas merkwürdig an, dass Flink und Pahlaniuk einem viel weniger als kontroverse Autoren begegnen, als es bei Charlotte Roche der Fall ist. Womöglich ist es damit zu erklären, dass in der Literatur – und das wissen die Kenner – alle Arten von Tabus längst gebrochen wurden. Ian McEwan schrieb bereits in den 70ern über Inzestaffären.

Davon weiß die Allgemeinheit nichts, und genau das bietet einer Charlotte Roche Platz, sich medial zu inszenieren. Ich glaube, hier ist auch der Punkt: Während Ficken und Sterben sowie Snuff Tabubrüche dazu nutzen, eine unverblümte, ehrliche Darstellung zu erschaffen bzw. Gesellschaftskritik zu üben, nutzt Charlotte Roche den Tabubruch um einen Skandal entfachen zu wollen. Das Werk an sich spielt hierbei weniger eine Rolle als das, was es bewirkt. Feuchtgebiete war eine Inszenierung durch Tabubruch, und Tabubruch des Tabubruchs wegen. Schoßgebete schlägt in diese Kerbe, auch wenn das Buch versucht, andere Themen wie Glück und Tod mit einzubringen.

Letztendlich ist der Vorteil an Tabus: sie lassen einen Karrierepush zu. Es klingt wie ein Slogan aus der Promiwelt: Du willst dich ins Gespräch bringen – brich ein Tabu (Ashton Kutchers Nackedei-Auftritt, anyone?) Würden wir keine Tabus akzeptieren, würden wir alles zeigen und über alles sprechen können, wären wir gegen Inszenierungen wie die der Charlotte Roche gefeit. Wir wären ein Stück weiter weg von dem Spiel mit der Sensationsgeilheit und ein Stück näher an der Wahrheit. Aber im Gegenzug dazu frage ich mich, ob es mich damals als Knirps nicht noch viel mehr verstört hätte, hätte ich einen Zeichentrickpenis in eine Zeichentrickvagina stoßen gesehen.

 


 


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2 Responses

  1. Robert H. sagt:

    Die Frage bleibt, hat der Autor das Buch gelesen?
    Eine Sache soll völlig klar sein… Charlotte Roche schreibt nicht besonders gut, aber vielleicht will sie das ja auch gar nicht. Die Bücher (uuuhhh… beide) sind sehr auf den Punkt gebracht. Und… sie haben ihre Wirkung getan.

    Die Wirkung, welche die die Autorin abzielte, war keinesfalls jene, neben Faulnber oder Palahniuk (wahrlich, es gibt größere) in das Klassiker-Regal bei Thalia zu kommen. Man bedenke den letzten Roman. Die Story war, sagen wir mal einfach. Die Sprache an seriösen Stellen unwertvoll. Aber die Aussage und der Kern: Sehr schön. Im Übrigen landete „Feuchtgebiete“ in Frankreich auf den Bestsellerlisten… im Land der Kosmetik“.

    Das neue Buch ist an die Viva-Generation gerichtet, die mit der damlaigen moderatorin aufwuchs und jetzt zwar älter ist, sich aber ganz und gar nicht so fühlt. Und das ist auch gut so.
    Die im Buch geschilderten Probleme können zwar Probleme einer Beziehung sein, schildern aber gemeinhin die Differenzen eines Beziehungsalltags, der bereits von längerer dauer ist.

    Das Buch ist lesenswert. Und ja: Vielleicht ist es wieder ein „Frauenbuch“. Das werden aber ganz allein die Frauen entscheiden und wie diese Entscheidung aussieht, werden wir in ein paar Jahren merken. Tatsache ist, darüber wird gesprochen werden. Erst über das buch. dann über die Autorin. Dann über den Skandal und schließlich über das Thema. Das war zwar schon lange nichts Neues… ist aber aktueller denn je.

  2. Robert H. sagt:

    man verzeihe die rechtschreibfehler

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