Kurzgeschichte: Männer, Wölfe 4 – Zu alt für eine Mutter – von Dominik Grittner
Ihr erinnert euch: Jeromes Schwanz brachte ihm in Magdeburg ordentlich Ärger ein. Nicht nur, dass er eine Freundin verlor, nach einem verkackten Teufelsdreier wandte sich auch sein bester Freund von ihm ab. Als Jerome zurück nach Berlin kehrte, fand er seine Wohnung ausgebrannt vor. Im vierten Teil versucht Jerome sein Leben auf die Reihe zu bekommen: Ein Bewerbungsgespräch als PR-Typ bei Katjes steht an. Wie das wohl läuft? Ich bin Dominik Grittner und wünsche euch viel Spaß beim vierten Teil von Jeromes Odyssee.
Text: Dominik Grittner | Illustrationen: Sarah Neuendorf
Sicher: Alle Kinder müssen sich irgendwann von ihren Eltern abnabeln. Die einen machen es radikal, die anderen mit Geduld. Manchen gelingt es, manchen nicht.
Ich denke, das ist es, was man Erwachsenwerden nennt.
Ich bin einer von den Radikalen. Und das wird mir jetzt erst klar. Jetzt, wo meine Mutter im Sterben liegt.
Teil 1
Ich denke, ich habe das Beste getan, was man tun kann, wenn man seine Bude abgefackelt vorfindet: Drei Flaschen Wodka gekauft, mich ins Wohnzimmer gesetzt und gesoffen, bis ich ohnmächtig wurde. Nur Wodka ist in der Lage, mich an diesen Punkt zu bringen.
Am nächsten Morgen erweist sich diese Idee als ziemlich dumm: Ich habe das Bewerbungsgespräch bei Katjes. Morgens um sieben klingelt mich mein Handywecker aus dem Rausch und für ungefähr zehn Minuten weiß ich nicht, wo oben oder unten ist. Wacht mal volltrunken in einer ausgebrannten Bude auf: Ihr denkt, ihr seid tot und in der Hölle gelandet.
Ich bin auf dem Weg nach Potsdam, gehe auf ein öffentliches Klo um mich für mein Bewerbungsgespräch hübsch zu machen, was mit Wasser und einer Tube Zahnpasta nur halbwegs gelingt. Ich sprühe mich mit einem Parfüm ein, das ich Emilia geklaut habe. Mandarine-Jasmin. Wäre ich eine Frau, würde ich mich vernaschen.
Noch zehn vor elf sitze ich bei Miss Katjes. Sie trägt natürlich einen anderen Namen, aber an den kann ich mich jetzt nicht mehr erinnern.
Miss Katjes trägt einen Anzug für Frauen, scheint sich nicht wirklich wohl darin zu fühlen. Sie trägt ihn eher, weil es ihr Job verlangt. Sie ist eine Frau von der Sorte, die wenig grinst, obwohl es ihr wunderbar stehen würde. An ihrer Wand hängen Poster mit Sprüchen wie: „Man muss nur wollen!“ oder „Im Krieg und im Job ist alles erlaubt!“
Und da sitze ich: Vor einer Kriegerin von Frau, durchgestylt bis in die Zehenspitzen und mit ernstem Blick, während meine Augen rot leuchten, mein Hemd so zerknittert ist als hätte ich zuvor damit Akkordeon gespielt und mein schlaffer Körper den wohligen Geruch von Mandarine-Jasmin versprüht.
„Schön, dass wir uns kennenlernen“, sagt sie.
„Ja, schön.“
„Sie haben viel Erfahrung als Redakteur. Trotz Studium.“
„Ja. Ich liebe meine Arbeit“, sage ich. Am liebsten würde ich mich für diesen Satz erschießen.
„Tun Sie? Sie haben in den letzten zehn Monaten in fünf verschieden Redaktionen gearbeitet und ihr BWL-Studium abgebrochen.“
„Es ist gerade eine schwere Zeit.“
„Aha. Und Sie meinen, sie könnten unser Unternehmen trotz schwerer Zeiten angemessen repräsentieren?“
Oh man.
„Hören Sie“, sage ich. „Ich weiß, dass mein Lebenslauf nicht den besten Eindruck macht, aber ich habe eine starke Motivation, hier anzufangen.“
„Und die wäre?“
„Ganz einfach und simpel: Geld. Meine Bude ist gerade abgebrannt, meine Mutter liegt im Sterben und ich habe keine Ahnung, wohin mit mir. Alles, was ich mir wünsche, ist ein geordneter Alltag und ein Dach über dem Kopf. Dafür brauche ich Geld. Dafür brauche ich diesen Job.“
So, Mademoiselle Kriegerin, das ist alles, was ich hab.
Miss Katjes verschränkt ihre Arme und lehnt sich zurück. Sie hat ihre Haltung festgelegt. Wenn sich Frauen für eine Haltung entschieden haben, dann kann weder Gott noch Teufel sie davon abbringen.
„Ich denke nicht, dass wir jemanden gebrauchen können, der im Kopierraum Frauen von der Straße beglückt. Aber lassen Sie uns doch noch über Ihre Erwartungen reden.“
Sie amüsiert sich. Die dumme Kuh amüsiert sich über mich. Ich schwitze. Katerschweiß. Der Mandarine-Jasmin-Duft mischt sich mit dem Geruch meines Schweißes. Mandarine-Jasmin-JeromeSchweiß. Ich muss stinken wie ein Zoo.
„Haben Sie noch etwas Erwähnenswertes?“
Ich sage nichts. Ich starre sie an. Es fällt mir schwer, mein höhnisches Grinsen zu halten.
„Lassen Sie uns über Ihre Schwächen reden“, sagt Miss Katjes und lehnt sich vor. Dabei lächelt sie.
„Welche ist Ihre größte Schwäche?“
Ich lehne mich zurück, sage trocken: „Praktikantinnen.“
Das Gespräch ist beendet.
Teil 2
Wenn mich Leute über meine Mutter fragen, dann sage ich immer: Wir haben kein gutes Verhältnis zueinander. Die Leute denken dann gleich immer das Schlimmste. Dass sie wollte, dass ich Arzt oder Anwalt werde und ich deswegen nie wie alle anderen Kinder draußen spielen durfte, sondern lernen musste. Dass sie mich niemals haben wollte und deswegen nachts sturzbetrunken in mein Zimmer stolperte und mich mit ihrem Ledergürtel vermöbelte. Oder dass sie zuließ, dass mein Stiefvater mich sexuell missbrauchte.
Nichts davon ist der Fall. Menschen kommen manchmal einfach nicht miteinander klar. Es muss keinen Grund geben. Sie sprechen einfach zwei unterschiedliche Sprachen, interessieren sich nicht füreinander und fertig. Warum soll das nicht zwischen Sohn und Mutter vorkommen?
Als ich mit 18 auszog, begann ich mein Studium in Magdeburg und habe mich einfach nicht mehr bei ihr gemeldet. Ich habe all ihre Briefe nicht geöffnet, bin nur ein einziges Mal zu Weihnachten nach Hause gefahren. Wir hatten eineinhalb Jahre keinen Kontakt, da schlägt sie eines Tages auf dem Magdeburger Campus auf und fängt mich ab. Ob wir nicht einen Kaffee trinken wollen. Keine Ahnung, wie lang sie mich gesucht haben muss. Sie tat mir etwas leid, also sagte ich: Okay, lass uns einen Kaffee trinken. Wir sitzen eine halbe Stunde im Café, reden oberflächliches Zeug und ich stelle fest: Ich habe mit dieser Person nichts, worüber ich sprechen kann.
Sie fragt, ob wir uns gleich fürs nächste Mal verabreden wollen. Ich behaupte, ich hätte keine Zeit, ihr schießen Tränen in die Augen und dann fährt sie zurück nach Hannover.
Das ist mittlerweile drei Jahre her.
Kurz nach eins bin ich bei Marco zum Frühstück. Es gibt Reis mit Sojamilch. Geklaut von seinen chinesischen Mitbewohnern. Die essen tatsächlich gekochten Reis zum Frühstück.
„Tut mir leid. Also die Sache mit Christina“, sagt Marco.
„Mir auch.“
„Und du stinkst wie nen Zoo.“
Da muss ich lachen.
Marco isst nichts. Er dreht sich gerade eine Kippe und zündet sie sich an. Danach wird er einen Kopf rauchen. Dann einen zweiten. Erst, wenn er rote Augen hat, nimmt er seine erste Mahlzeit zu sich.
„Lief Scheiße bei Katjes?“
„Nein, spitze…“, sage ich trocken.
Er qualmt aus und stopft sich währenddessen seinen ersten Kopf zurecht. „Wenn du einen Job brauchst, kann ich dir einen besorgen.“
Ich schweige.
„Warschauer Straße“, sagt er schließlich. „Die kennst du doch?“
„Bei den ganzen Schwarzen? Die verprügeln mich doch.“
„Quatsch, die wären deine Kollegen.“
„Grün oder weiß?“
„Weiß.“
Ich überlege. „Man, ich will raus aus der Scheiße. Ich will nichts mehr verkaufen.“
„Okay, dann viel Erfolg bei deinen Bewerbungsgesprächen, bei denen du scheiße aussiehst und wie nen Zoo stinkst.“
Ich brauche dringend Kohle.
Marco zündet sich gerade den Kopf an, da kommt sein chinesischer Mitbewohner in die Küche.
„Malco, Malco! Halst du schon wiedel geklaut meinel Sojamilch?“
Ich lache. Es ist nicht fair, das gebe ich zu, aber ich lache den Chinesen aus. Es tut gut, jemanden zu sehen, dem es schlechter geht als mir.
Der Chinese reißt mir die Reisschale aus den Händen.
„Ey!“, rufe ich.
‚„Boah man!“, sagt Marco. „Lass den Scheiß!“
Marco erhebt sich, zieht dabei an der Bong, greift nach der Schale mit dem Reis. Der viel kleinere Chinese dreht sich weg und ruft immer nur: „Niiin! Niiin!“
Das ist mir zu dumm. Ich stehe auf, gehe. Als ich die Tür schließe, höre ich den Chinesen noch immer rufen: „Niiin!“
Teil 3
Ich setze mich in ein Hipster-Café gegenüber von Marcos Wohnung und trinke einen viel zu teuren Espresso. Fair Trade. In meiner Nase trage ich noch immer den Geruch meiner ausgebrannten Wohnung, den wird man so schnell nicht los. Ich denke an Anna-Lucia. Sollte ich sie verklagen? Andererseits: Ich habe sie wie Dreck behandelt und bin schuld, dass sie den Verstand verloren hat.
Ich hole meinen Flachmann aus der Tasche und haue Wodka in meinen Espresso. Danach zücke ich mein Handy. Ich höre noch einmal die Nachricht meiner Schwester ab. Über meine Mutter.
Ich sitze in einem Hipster Café, trinke Fair Trade Espresso mit Wodka, während meine Mutter 300km entfernt im Sterben liegt.
Wenn ich an meine Mutter denke, dann denke ich an Paracetamol. Wie sie Paracetamol in ihre gelbliche Hand legt und es hinterwirft, als sei es ein notwendiges Übel. Ich denke daran, wie viel Kraft und Zeit sie an meinen Vater verschwendet hat.
Wenn ich an meine Mutter denke, dann denke ich daran, wie ich mit zehn in der Küche sitze und meine erste Geschichte schreibe. Über einen Jungen, der an Agoraphobie leidet – also sein zu Hause nicht verlassen kann – sich ein Indianer-Ego erschafft, einen mutigen, kleinen Indianer, der genug Mut hat, die eigenen vier Wände zu verlassen. Ich sitze an der dritten Seite, meine Mutter kommt herein und sagt: „Jerome, mäh den Rasen!“
Nie hatten wir Geld. Meine Mutter warf alles raus. Für die Kur, für Lomi-Lomi Nu Massagen, für scheiß Zeichenkurse, weil sie sich ja selbst finden musste, aber wenn ich schreibe heißt es: „Mäh den Rasen!“ Frauenurlaube hat sie gemacht. Gegen die scheiß Männerwelt. Nie was beiseite gepackt. Paracetamol geschluckt wie Wasser.
In diesem Moment hasse ich sie. Aber ich denke, das ist okay. Wenn jemand im Sterben liegt, dann ist er für dich nicht heilig. Dann fallen dir die ganzen Kleinigkeiten ein, die unaufgearbeitet blieben. Dann denkst du an all das Zeug, das zwischen euch steht.
Eine Gruppe Hipster betritt das Hipster-Café. Sie tragen selbstgestrickte Wollmützen und riechen nach Gras. Das motiviert mich, mir noch einen Espresso zu bestellen und Wodka rein zu kippen. Ich haue ihn weg, meine Beine sind taub, mein Hintern ist taub.
Klar, dass meine Mutter sterben muss. Ich bin zu alt für sie, ich bin zu alt für eine Mutter. Ich bin zu fertig mit der Welt.
Es wäre das richtige nach Hannover zu fahren und ihr in den letzten Lebensstunden beizuwohnen. Egal, was zwischen uns steht: Es ist möglich, dass ich es in zwei oder fünf oder zehn Jahren bereue, dass ich nicht bei ihr war. Ich sollte es tun. Ich sollte Abschied nehmen.
Für einen langen Moment dröhnt es mir im Kopf. Geklacker von MacTastaturen, Hände die durch Bärte streichen, dummes Gelaber. Scheiß Hipster.
Ich schaue auf mein Handy. Ein verpasster Anruf. Wenn ich mich allein in ein Café hocke, schalte ich grundsätzlich mein Handy aus.
Anika hat versucht anzurufen. Meine Schwester.
Ich rufe sie zurück.
„Hey, du hast vorhin…“
„Du Idiot! Jerome, du bist so ein Idiot!“
Ich schweige.
„Du Idiot!“ Sie schluchzt. Ich weiß genau, was los ist.
„Es ist zu spät“, sagt sie. „Es ist zu spät. Sie ist tot! Mama ist tot!“
Fuck.
Das Handy fällt mir aus der Hand.
Ich sitze da, reglos. Die Hipster starren mich an. Ich fühle mich wie ein Nilpferd mit einem Betäubungspfeil im Arsch.
„Hallo?“, heult es aus dem Handy. „Bist du noch da?“
Nein, tut mir leid. Jerome hat ausgecheckt.
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