Papst Pius XI. war kein Heiliger – Der erste Stellvertreter

Rezension zu David I. Kertzers Werk – Der erste Stellvertreter. Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus

Mord, Betrug, Verschwendungssucht: Die Liste der Skandale und Missstände im Vatikan sind lang und mit Sicherheit noch nicht alle aufgearbeitet. Der Anthropologe und Historiker David I. Kertzer hat sich für seine Untersuchungen ein ganz besonders dunkles Kapitel der katholischen Kirche herausgesucht.

Text: Andreas Lilienthal | Fotos: Theiss Verlag & www.davidkertzer.com

Nicht erst seit Rolf Hochhuths Schauspiel Der Stellvertreter aus dem Jahr 1963 sind immer wieder Fragen zur Haltung des Vatikans gegenüber den damaligen Machthabern, den Faschisten, aufgekommen. Warum hat die Katholische Kirche nie öffentlich gegen die Verfolgung und schließlich den Massenmord an den Juden protestiert?

Im Fokus dieser Diskussion steht meist, der im März 1939 zum Papst gewählte Pius XII. Als letzter römischer Pontifex verkörperte er den absoluten Machtanspruch des Petrusamtes in Zeit der Schande und des Sterbens in Europa. Er gilt noch heute als einer der umstrittensten Päpste unserer Zeit. Insbesondere, weil er zu den NS-Verbrechen schwieg und auch nach dem Zweiten Weltkrieg während seines fast zwanzigjährigen Pontifikats kein Stellung bezog.

Doch laut David I. Kertzer hat bereits sein Vorgänger Papst Pius XI. den Weg für die Faschisten in Europa geebnet.

Der Mailänder Erzbischof Achille Ratti wurde als Papst Pius XI. nach vierzehn Wahlgängen 6. Februar 1922 gewählt. Im selben Jahr riss ein gewisser Benito Mussolini mit dem Marsch auf Rom in Italien die Macht an sich. Er hatte dabei leichtes Spiel. Italiens Wirtschaft lag nach dem Ersten Weltkrieg am Boden. Dem Land fehlte es an politischer Führung, denn die Sozialdemokraten verloren zusehends an Macht.

Machtergreifung mit Gottes Segen

Doch ohne die gütige Unterstützung des Vatikans hätte der Duce den politischen Thron Italiens niemals erklimmen können, behauptet Kertzer in seinem neuen Werk. Der erste Stellvertreter. Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus erzählt von einem geheimen Handel, zwischen der Kirche und den Faschisten. Der Vatikan verpflichtete sich, die antisemitischen Rassengesetze nicht zu kritisieren, wenn katholische Organisationen im Gegenzug besser behandelt würden. Eine Ungeheuerlichkeit, die Kertzer während seiner siebenjährigen Forschungsarbeit minutiös belegt und niedergeschrieben hat.

Angst vor Kommunismus und Demokratie

Die beiden Oberhäupter Mussolini und Papst Pius XI. hatten mehr gemein, als die katholische Kirche aus heutiger Sicht wahrhaben will. Denn beide vertraten beispielsweise die Ansicht, dass die Demokratie schlecht sei und die Menschen einem Führer gehorchen sollten. Das Volk sei nicht dazu da, Fragen zu stellen oder Befehle zu diskutieren. Außerdem einte sie die Angst vor dem angeblich drohenden Kommunismus.

Und Mussolini bedankte sich für die ausgetreckte Hand des Vatikans, in dem er die Kirche jährlich in besonderem Maße finanziell unterstützte. Und trotz seiner eigentlich antiklerikalen Haltung ließ er wieder Kruzifixe in allen staatlichen Stellen aufhängen.

Privilegien für die Kirche für die Machtebnung

Der Duce wusste, dass die katholische Kirche ihm ausgeliefert war. Wenn er wollte, konnte er der katholischen Kirche jederzeit mit Repressalien drohen. Doch gleichzeitig wusste er, dass er ebenfalls auf das Wohlwollen des Pontifex angewiesen war. Denn immerhin vereinte der Vatikan Millionen italienischer, gläubiger Christen hinter sich, die dem Wort des Papstes jederzeit Gehör schenken würden.

Der US-amerikanische Historiker und Anthropologe Kertzer schafft es in seinem Werk die Geschichte und den Werdegang beider historischer Persönlichkeiten in einem parallelen Netz von Ereignissen und Verwebungen darzulegen und in den historischen Kontext einzuordnen.

Er kreiert eine erschütterliche Geschichte zum Bündnis von Vatikan und Faschismus und schafft durch seine brillante Erzählweise und insbesondere seine anschaulichen Charakterisierungen der Protagonisten eine ganz besondere Dramaturgie, wie sie sonst nur in Thrillern zu finden ist.

Dass er sein Buch ausgerechnet auf dem 51. Deutschen Historikertag, das am 21. September unter dem Motto Glaubensfragen stattfand, vorstellte, passt zum gesamten Werk.

Für sein neues Buch hat Kertzer in diesem Jahr sogar den renommierten Pulitzer-Preis gewonnen.
Professor David I. Kertzer lehrt derzeit an der Brown University in den USA Sozialwissenschaft, Anthropologie und italienische Studien. Er forscht intensiv im Vatikanarchiv. Seine bisherigen Arbeiten und Werke wurden bereits drei Mal mit dem angesehenen Marraro-Preis ausgezeichnet.

David I.Kertzer: Der erste Stellvertreter – Pius XI. und der geheime Pakt mit dem Faschismus
Aus dem Englischen von Martin Richter;
Theiss Verlag – WBG 2016;
656 Seiten, 38 Euro;
ISBN: 978-3-8062-3382-7

:: Mehr Informationen unter http://www.wbg-verlage.de

 

Zusammenfassung
Artikel
Papst Pius XI. war kein Heiliger
Beschreibung
Der erste Stellvertreter - Das neue Werk von David Kertzer ★ Laut Kertzer ebnete der Vatikan dem Faschismus den Weg ★ DEIN LITERATURMAGAZIN
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Youngspeech Magazin

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